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AutorenbildKarry Schwettmann

Divergenz und Konvergenz in der Nachhaltigkeitspraxis - Ein systemtheoretischer Blick auf Wesentlichkeit & Co

Aktualisiert: 9. Juli

Die steigende Komplexität der modernen Arbeitswelt und die vielfältigen globalen Krisen fordern von Unternehmen tiefgreifende Veränderungen in ihren Geschäftsmodellen und Arbeitsweisen. Konzepte wie Nachhaltigkeit, New Work und Agilität sind dabei zentrale Ansätze.


"Any company designed for success in the 20th century is doomed to failure in the 21st century." - David S. Rose

Gerade Begriffe aus dem Nachhaltigkeitsmanagement wie "Stakeholderdialoge", "Diversität", "Wesentlichkeitsanalyse", aber auch Begriffe aus der New-Work-Bewegung wie "Purpose" und "Partizipation" klingen alle zukunftsrelevant, aber was steckt dahinter? Was tun diese Ansätze aus systemtheoretischer Sicht in der Organisation? Welche Funktion haben sie im System?


Dieser Artikel beleuchtet die Begriffe im Kontext von Divergenz und Konvergenz als systemtheoretische Konzepte. Diese Perspektive hilft zu verstehen, welche Wirkung das Nachhaltigkeitsmanagement in der Organisation entfaltet und wie es effektiver operieren kann, mit dem Ziel wirksamere Nachhaltigkeitsmaßnahmen zu entwickeln, die das gesamte System berücksichtigen.


Eine Antwort ist in einer Gesetzmäßigkeit zu finden, die besagt:


"Zur Bewältigung einer Problemsituation benötigt es eine mindestens gleich große Varietät durch das Lösungssystem." – W. Ross Ashby

Das Ashbysche Gesetz oder “Ashby’s Law” ist von Bedeutung, wenn wir verstehen wollen, wie Unternehmen sich für die steigende Komplexität in der Umwelt wappnen können. Um dieser Komplexität im Außen angemessen begegnen zu können, müssen Unternehmen Komplexität im Inneren, also in der eigenen Organisation, erhöhen. Dabei dient die Varietät als Messgröße für die Komplexität eines Systems. Varietät kann man durch verschiedene Maßnahmen erhöhen, zum Beispiel durch cross-funktionales Arbeiten, Mitarbeiterpartizipation oder mehr Diversität in der Belegschaft. Auch die Etablierung von strukturierten Stakeholderdialogen gehört dazu. Dadurch entstehen Prozesse, innerhalb derer verschiedene Perspektiven und Erfahrungen aufeinanderstoßen, die potenziell Spannung und Reibung erzeugen, woraus zugleich treibende Kräfte entstehen. Es entsteht etwas Neues. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Divergenz.


Nun stellt sich aber die Frage, ob man eine Organisation damit nicht überfrachtet und die innere Komplexität zu einem Grad steigert, dass sie beliebig wird und sich die Organisation im Chaos verliert. Hier kommt Konvergenz ins Spiel.


Divergenz und Konvergenz in Balance


Konvergenz entsteht beispielsweise durch einen starken Purpose und klare Rahmenbedingungen, die Prozesse ausrichten. Der Austausch z.B. über Abteilungen oder die Unternehmensgrenze hinweg sollte sinnvoll konsolidiert werden. Es braucht einen klaren Fokus. Das kann zum Beispiel ein starker Purpose sein, der wie ein Nordstern die verschiedenen Perspektiven und Inspirationen zu kanalisieren und in ein kohärentes, kollektives Verständnis zu übersetzen vermag. Anders ausgedrückt: das zielgerichtete Reduzieren von Varietät in der Organisation ist Voraussetzung für Balance. In den meisten Unternehmen würde es bedeuten, dass das Management gegenüber dem ausführenden Team einen klaren Entscheidungsraum zur Verfügung stellen muss, innerhalb dessen das Team agieren kann.

Ich habe oft, besonders in selbstorganisierten Unternehmen, beobachtet, wie wenig darauf geachtet wird, Konvergenz entstehen zu lassen, und sich dies in einer sehr stark diversifizierten Produktentwicklung und chaotischen Unternehmenskommunikation niederschlägt, die gänzlich den Fokus verliert und langfristig der Marke schadet. 


Was folgt nun aus diesem Wissen für die Praxis in der Transformationsarbeit in Unternehmen? Aus meiner Sicht ist ein naheliegender Rückschluss daraus zu ziehen und ich formuliere es einmal als Prinzip:


Ein Unternehmen sollte nicht ohne Weiteres Varietät erhöhen, ohne zu wissen, wie sie Varietät reduziert.


Ich beschreibe das Prinzip bewusst so, da es in meinen Augen den Unternehmen, die aktiv eine Veränderung in Richtung mehr Nachhaltigkeit anstreben, leichter fällt, Maßnahmen für divergierende Bewegung umzusetzen und dabei vergessen, gleichermaßen Maßnahmen für konvergierende Bewegung einzuführen. Stichpunkt Wesentlichkeitsanalyse und Stakeholdermanagement.


Stakeholdermanagement


Dazu zwei Beispiele. In meiner Arbeit als Nachhaltigkeitsberaterin habe ich immer wieder gesehen, dass Varietät dadurch erhöht wird, dass Stakeholder-Engagementpläne entwickelt und umgesetzt werden, während aber kein klarer Rahmen für die daraus resultierenden Entscheidungsprämissen gegeben wird, wodurch Varietät wieder reduziert wird. Die Gefahr ist hier unübersehbar: Das Unternehmen gewinnt zwar Einsichten über die Interessen verschiedener Stakeholdergruppen, aber sie können nur bedingt in sinnvolle Handlungen überführt werden. Um sicherzustellen, dass die an der Stelle gebundenen Ressourcen effektiv genutzt werden, muss unbedingt klar sein, wie Entscheidungen und Handlungskonsequenzen aus den Dialogen ermittelt werden. Hier spielen klare Leitbilder eine wichtige Rolle, die auf unterschiedlichen Zeithorizonten angelegt sind: Mission, Vision und Purpose.


Wesentlichkeitsanalyse und Datenflut


Eine ähnliche Herausforderung sehe ich bei der Wesentlichkeitsanalyse. Der Prozess der Wesentlichkeitsanalyse sieht im Rahmen der “Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD)” vor, dass Unternehmen ihre positive wie negative Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft bewerten und die wichtigsten Aspekte offenlegen. Das Ergebnis des Prozesses kann dazu führen, dass Unternehmen mehrere hundert neue Datenpunkte erheben müssen, die vorher keine Rolle gespielt haben (Divergenz). Die verpflichtende Wesentlichkeitsanalyse ist an sich ein wichtiger Meilenstein in der Bewusstwerdung über das eigene Wirken, stellt aber die Unternehmen auch vor die Herausforderung, diese Datenflut nicht nur zu bewältigen, sondern auch sinnvoll und strategisch zu kontextualisieren. Die dazugehörigen Berichtsstandards legen zwar Wert darauf, dass neben den quantitativen Daten auch qualitative Informationen offengelegt werden, dabei wird aber oft vernachlässigt zu fragen, wie ein geeigneter Rahmen für diese Prozesse und die tägliche Entscheidungsfindung gesetzt wird, damit sie auf das Große Ganze einzahlen (Konvergenz).


Der regulatorische Druck von außen fördert dabei einen Aktionismus, der vor allem Divergenz begünstigt. Beides, Divergenz und Konvergenz, ist aber wichtig, beides birgt Chancen und Risiken, und es geht letztlich darum, das Fundament für beide Bewegungen bewusst zu legen.


Purpose-getriebene Handlungskonsequenzen


Wir wissen, dass nur ein starker, integerer Purpose Unternehmen nachhaltig und authentisch leiten kann, indem er als verbindlicher Nordstern für Entscheidungen und Handlungen dient (Konvergenz). Aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass, wenn ein Unternehmen es mit der Nachhaltigkeit ernst meint, der Purpose als solcher auch auf Nachhaltigkeit - oder präziser formuliert: auf die ermittelte Wesentlichkeit - ausgerichtet ist und dieser nicht, wie so oft, nachgelagert darauf einzahlt. Das führt sonst zu Green- oder Purposewashing.


Damit komme ich zu meinem Schlussgedanken. Wir hatten bereits in einem anderen Artikel den Purpose-Begriff beleuchtet und zitierten hierbei Stafford Beer:


"Purpose of a system is what it does (POSIWID)"." bzw. “Der Zweck eines Systems ist das, was es tut, nicht das, was es vorgibt zu tun."

Dies entspricht nicht dem konventionellen Verständnis von Purpose, der in Unternehmen oft als Wunsch bzw. Wandbild an den Wänden hängt. Der gewünschte Purpose stimmt nicht zwangsläufig mit dem beobachtbaren Zweck einer Organisation überein. Manchmal steht dieser sogar im Widerspruch zum Zielbild. Das ist aus verschiedenen Perspektiven problematisch. Als Konsumentin kann ich mich schnell getäuscht fühlen und als Mitarbeiter des Unternehmens bin ich möglicherweise desillusioniert oder demotiviert, wenn ich erkenne, dass die tatsächlichen Praktiken und Entscheidungen des Unternehmens nicht mit den propagierten Werten und Zielen übereinstimmen. Nicht umsonst beschäftigt sich inzwischen sogar die EU mit Greenwashing und wie man diese oftmals unbewusste Praxis unterbinden kann.


Divergenz und Konvergenz fördern Emergenz


Unternehmen sollten also bei der Frage nach ihrer (Über-)Lebensfähigkeit nicht nur Varietät erhöhen, sondern auch reduzieren. Ein starker Purpose ist eine Möglichkeit, dieser sollte aber wirklich gelebt werden. Schließlich fördern Divergenz und Konvergenz Emergenz. Es bedeutet, dass aus mindestens zwei Dingen etwas Neues entsteht, das größer ist als seine Einzelteile. Emergenz ist in diesem Sinne die natürliche Adaptionsleistung an eine sich stetig verändernde Umwelt.

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